Es kann doch nicht wahr sein, daß uns allen wohl ist, wenn nur dem Kapital bei uns wohl ist – und uns am Ort um so wohler wird, je wohler es dem Kapital da ergeht und unser Ort es einlädt, hier und nirgends anders seinen Standort zu nehmen. Ja, wenn das Kapital uns mit lohnenden Arbeitsplätzen käme und wir uns nichts besseres wünschen könnten, als daß sie kämen und uns Arbeit brächten, könnte vielleicht etwas Wahres daran sein, daß unser Wohl von dem des Kapitals nicht zu trennen sei. Wir müßten dann allerdings trennen zwischen unserem und dem Wohl anderer, das damit auf der Strecke bliebe. Wenn wahr sein sollte, daß unser Wohl von dem Wohl des Kapitals abhängt, das es bei uns findet, dann ist auch wahr, daß unser Wohl das Elend anderer bedingt. Wie wahr ist, daß das Elend an anderen Orten über Nacht den eigenen Ort treffen kann. So wohl tuend die Verknüpfung unseres Wohls mit dem Wohl des Kapitals auch ist, das Kapital hat keinen Grund, wie wohl ihm unser Wohlwollen auch bekommt, es uns zu danken – und sein Wohl mit unserem zu verknüpfen. Im Gegenteil. Je mehr wir ihm bieten, desto weniger hat es uns zu bieten. Je mehr wir ihm mit Human- und anderen Ressourcen gefällig sind, uns und unseren Ort der Verwertung anheimgeben, desto zügiger kann das Kapital investieren, den Produktionsprozeß rationalisieren, modernste Technik einsetzen, Arbeitsplätze abbauen – und die Erwartung, daß sein Wohl auch unser Wohl sei, Lügen strafen. Davon abgesehen, daß die Verbesserung der Verwertungsbedingungen des Kapitals unsere Lage nicht verbessert, im Gegenteil nur verschlechtert, daß unsere Bereitschaft, seine Kosten zu senken, den Umsatz zu vervielfachen, nicht mit der Schaffung, sondern mit der Abschaffung von Arbeitsplätzen belohnt wird, ist nicht zu übersehen, daß die eingesetzte Technik, ob wir mit ihr nun Arbeit haben oder ihr nachlaufen, uns fertig macht: uns und unsere Familie, unser Dorf, unsere Stadt, unser Land, alle Welt, die in ihren Bannkreis gerät. So will es der Geist, der den der Technik beherrscht: der Geist des Kapitalismus, für den bezeichnend ist, daß er uns keinen anderen zugesteht, der den immer rasender werdenden technischen Fortschritt aufhält – und wir für einen Augenblick oder auch für ein paar mehr „verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen“ (Benjamin: I.2, S.698). Damit das nicht geschieht, versteckt er sich, gibt er sich als neutral aus: als Sache der Wissenschaft, die sich beliebig nutzen läßt. So kann er unangefochten seine verheerende Wirkung entfalten. Wie Ernst Jünger ausplaudert, der diese Wirkung ausdrücklich begrüßt, insofern sie reif fürs Heer macht, mit dem es wieder möglich wird, „im Monumentalstile zu bauen – und dies um so mehr, als die rein quantitative Leistungsfähigkeit der zur Verfügung stehenden Mittel jeden geschichtlichen Maßstab übertrifft“ (Ernst Jünger: Der Arbeiter. Stuttgart 1981, S.19O). Jünger macht kein Geheimnis daraus: Die Technik ist nicht neutral. „Überall, wo der Mensch in den Bannkreis der Technik gerät“, so schreibt er, „sieht er sich vor ein unausweichbares Entweder-Oder gestellt. Es gilt für ihn, entweder die eigentümlichen Mittel zu akzeptieren und ihre Sprache zu sprechen oder unterzugehen. Wenn man aber akzeptiert, und das ist sehr wichtig, macht man sich nicht nur zum Subjekt der technischen Vorgänge, sondern gleichzeitig zu ihrem Objekt. ... Die Anwendung der Mittel zieht einen ganz bestimmten Lebensstil nach sich“ (S.166). Vorausgesetzt, die Menschen ziehen mit. Wie wir wissen, ziehen sie mit – und untergraben fortschreitend effektiver „die Springquellen alles Reichtums ...: die Erde und den Arbeiter“ (Kapital I, S.530). Mit einem Lied auf den Lippen: „Wann wir schreiten Seit’ an Seit’ und die alten Lieder singen und die Wälder widerklingen, fühlen wir, es muß gelingen. Hirnverbrannt! Nennt Rosa Luxemburg die kapitalistische Produktionsweise. Sie richtet sich „gegen alle die Grundbedingungen..., ohne die die menschliche Gesellschaft nicht bestehen kann. (Einführung in die Nationalökonomie. Reinbek 1972, S.189f.). Sie entspricht – so Moishe Postone – einer „Brandrodungslandwirtschaft auf einem >höheren< Niveau; sie verbraucht die Quellen stofflichen Reichtums und zieht weiter“. Die der Kapitalform anhängende Phantasie „von Freiheit als der völligen Befreiung von aller Stofflichkeit, von der Natur...wird zum Alptraum für all das und all diejenigen, wovon das Kapital sich zu befreien versucht – den Planeten und seine Bewohner. Die Menschheit“, fügt er hinzu, „kann aus diesem schlafwandlerischen Zustand nur erwachen, wenn sie den Wert abschafft“ (Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Freiburg 2003, S.575f.). Aber was dann? Es muß doch eine Alternative zum Kapitalismus geben. Gibt es auch: den Kommunismus, der nicht falsch zu verstehen ist, nicht als Sozialismus! Schon gar nicht als nationaler. Doch auch nicht als realer, auch wenn er ein Sozialismus mit menschlichem Antlitz ist, das doch immer nur das Antlitz eines mehr oder weniger gutmütigen Staatsmannes ist, mit dem doch nur Staat zu machen ist. Nicht so der Kommunismus, der für uns wie für Marx und Engels „nicht ein Zustand (ist), der hergestellt werden soll, ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird“, sondern „die wirkliche Bewegung, welche, den jetzigen Zustand aufhebt“ (MEW Bd.3, S.35): der Versuch, wie Walter Benjamin schreibt, „den Lebenstag der Menschheit ebenso locker aufzubauen, wie ein gutausgeschlafener, vernünftiger Mensch seinen Tag antritt“ (zit. Erdmut Wizisla: Benjamin und Brecht. Ffm. 2004, S.272). Wir wollen diesen Versuch, „die unfruchtbare Prätension auf Menschheitslösungen abzustellen, ja überhaupt die unbescheidene Perspektive auf >totale< Systeme aufzugeben“ (ebd.), zur Debatte stellen – und hoffen auf gut ausgeschlafene, vernünftige Menschen, die uns mit ihren Beiträgen zu dieser Debatte auf die Sprünge helfen.
Texte zum Debattieren: Bauer, Marx und Nietzsche: Zur Judenfrage Das Individuum ist ein gesellschaftliches Wesen- nicht ein soziales |