Angelika Meier-Arend

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Lebenslauf

Räumlich habe ich mich nicht weit von den Orten meiner Kindheit entfernt. Am 19. September 1950 wurde ich in einem Vorort von Bielefeld geboren. Die ersten zwei Lebensjahre verbrachte ich auf dem Bauernhof meiner Großeltern in Altenhagen, dann lebten wir in Bielefeld. Dort ging ich zur Volksschule und zum Kindergottesdienst, wurde konfirmiert, ging zum Cecilien- Gymnasium, einem Mädchengymnasium. Mit 14 Jahren trat ich aus der Kirche aus, mit 16 Jahren ging ich aus eigenem Entschluß vom Gymnasium ab, um andere Erfahrungen zu machen. Ich verbrachte 2 Schuljahre auf einer höheren Handelsschule und machte danach eine kaufmännische Lehre bei den Anker-Werken. Als ich Industriekaufmann geworden war, beschloß ich, Sozialarbeit zu studieren und an der Studentenbewegung teilzunehmen. Nach diesem Studium und dem Anerkennungsjahr studierte ich Medizin in Münster. Heute arbeite ich als Ärztin für Rehabilitation in einer orthopädischen Reha-Klinik. Seit dem Auszug aus der Familie lebe ich in Wohngemeinschaften, seit 1975 hier in Borgholzhausen.



   



Solidarische Produktion statt Warentausch

Ich wurde am 19.9.1950 in einem Vorort von Bielefeld geboren. Die ersten zwei Lebensjahre verbrachte ich mit meinen Eltern und dem älteren Bruder auf dem Bauernhof der Großeltern in Altenhagen, die folgenden Jahre in wechselnden Wohnungen in Bielefeld. Im Laufe meines Lebens von den 50er Jahren bis 1972 habe ich mein Leben außer auf der Straße in den üblichen Einrichtungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft der Nachkriegszeit verbracht. Da war zuerst die Familie als erster Ort der Sozialisation, eine Familie wie alle anderen, in der die Eltern beim Gespräch über ihre Jugend die Vergangenheit als Anhänger und Träger des Nationalsozialismus weitgehend ausklammerten. Die Familie als ein Ort der ersten sinnlichen Erfahrung anderer Menschen, ihrer Haut, ihrer Wärme, ihrer Gesten, ihrer Gerüche, ihrer Töne beim Singen und Sprechen, andererseits ein Ort erster Schrecken, erster Demütigungen und Unterwerfungen, ein Ort, an dem durch die Eltern vermittelte staatliche Gewalt auftritt. Diese Erfahrungen gehen unter die Haut und formen das, was später als unser individuelles Ich erscheint, dessen Produktionsprozeß im sinnlichen Austausch mit anderen Menschen uns verborgen bleibt, während wir damit beschäftigt sind, die Haut zu Markte zu tragen.

Außerhalb der Familie war die erste Institution der Kindergarten, dann die Volksschule von 1957 – 1961. Zu dieser Zeit hörten die Lehrer gerade auf, die Kinder zu schlagen. Man spielte oft Völkerball und bestickte Handarbeitstücher, lernte viele biblische Geschichten auswendig und lernte noch Sütterlin . Damals ging ich sonntags in den Kindergottesdienst, wo junge Leute vom CVJM biblische Geschichten erzählten und Bildchen verteilten. Mit 14 Jahren trat ich aus der Kirche aus und beschloß, niemals in irgendeinem Verein mitzumachen Mit 16 Jahren verließ ich das Gymnasium, verbrachte 2 Jahre auf einer Höheren Handelsschule, wo ich Steno und Schreibmaschine für die moderne Frau der 60er Jahre im Büro lernte und machte von 1968 – 1971 eine kaufmännische Lehre. Ich lernte die Welt des Büros kennen, zu der die Welt der Illustrierten und der Reiseprospekte gehörte, „eine Welt, die bis in den letzten Winkel hinein wie mit einem Vakuumreiniger vom Staub des Alltags gesäubert ist“ (Kracauer, Die Angestellten). Ich lernte das Verlangen der angehenden Sekretärinnen kennen nach Abenteuern und die Träume der Arbeitermädchen von einer eigenen kleinen Familie. Ich traf mich mit vielen sympathischen Frauen, machte selbst halbherzig Pläne für eine Ehe und entschied mich dann doch dagegen. Zu vieles an Hoffnungen und Erwartungen, deren Erfüllung ich mir nur außerhalb von Ehe und Familie vorstellen konnte, wäre auf der Strecke geblieben. Ich spürte bereits in der Bürokleidung, daß ich es so in meiner Haut nicht länger aushalten würde. Die sinnliche Wahrnehmung der Welt spielt in der verwalteten Welt keine Rolle, die Erfahrungen kommen nicht zur Sprache und nicht zur Vernunft, sondern werden verdrängt und zu etwas Privatem. Was aber nicht bearbeitet wird, muß verkommen. Es fault unter Anzügen, Krawatten und Perlonstrumpfhosen und zeugt „von den verwesten Kräften...., die innerhalb der bestehenden Ordnung keinen Ausweg gefunden haben“ (Kracauer). Lieber zog ich mit drei anderen 1971 am Ende der Ausbildung in einen heruntergekommenen Kotten in unsere erste Wohngemeinschaft.

Von 1971 – 1974 studierte ich Sozialarbeit an der Fachhochschule Bielefeld. Aus den während des Studiums geschlossenen Freundschaften und der gemeinsamen Arbeit in Forschungsprojekten der Fachhochschule auf Abenteuerspielplätzen und in der Jugend- und Erwachsenenbildung ergaben sich alle weiteren Perspektiven. Ausgangspunkt waren die Politikseminare und Reflexionsgruppen bei Peter Pott, in denen die individuellen Lebensgeschichten aufgearbeitet und im gesellschaftlichen Zusammenhang reflektiert wurden, ein Versuch, die kritische Praxis der Psychoanalyse zu verbinden mit der Kritik der politischen Ökonomie. Es galt, sich auf die konkrete gesellschaftliche Praxis der Menschen zu besinnen, die diesen Theorien zugrundelag und ein neues produktives Miteinander zu schaffen bzw. die konkrete Praxis als einen Produktionsprozeß zu verstehen, in dem die Menschen ihre gesellschaftlichen Zusammenhänge auch verändern können, wenn sie aus der Privatheit zur Solidarität finden. Dazu muß die private Weise, auf die Erfahrungen gesammelt werden, öffentlich zur Sprache kommen. Dies benötigt eine andere Öffentlichkeit als die bürgerliche, in der die konkreten Erfahrungen des Produktionsprozesses verdrängt und fertige Produkte getauscht werden. „Proletarische Öffentlichkeit“ war der Name „für einen gesellschaftlichen kollektiven Produktionsprozeß, dessen Gegenstand zusammenhängende menschliche Sinnlichkeit ist“ (Negt/Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung). Diese Öffentlichkeit nahm keine Rücksicht auf Hierarchien, die z.B. in der theoretischen Diskussion herrschten, die vor allem von Männern geführt wurde. Auf konkret-sinnliche Solidarität verstanden sich, so wurde deutlich, die Frauen besser, wenn sie es lernten, nicht gegeneinander zu konkurrieren. Die Frauen hatten nicht nur mehr Sinn für die praktischen Tätigkeiten, sie liebten die Bewegung beim Tanz, den sprachlichen Austausch statt der Konkurrenz im Vortrag und waren stets eher bereit, erstarrte Verhältnisse zumindest zeitweise zum Tanzen zu bringen. Sie bewegten sich einfach lieber tänzerisch und ließen sich dadurch leichter erschüttern. „Singen, Spielen, Tanzen“ hießen schlicht die zahlreichen Abende, die wir in der Fachhochschule verbrachten, um Lieder und Tänze aus aller Welt zu lernen, Theater zu spielen , Feste zu feiern. Die Feste, die nicht nur einen kurzen Rausch ermöglichen sollten, um den tristen Alltag zu vergessen, der dann doch nur umso härter zuschlägt, sondern eine Verbindung von Rausch und Reflexion, die es gemeinsam zu organisieren galt. Die Bewegung im Tanz , der Ausdruck beim Theaterspiel, das offene Gespräch sollten erschüttern und aufrütteln zu einem bewegteren Dasein im Alltag. „Das Wort Erschütterung hat man bis zum Überdruß vernommen. Da darf wohl etwas zu seiner Ehre gesagt werden. Es wird sich keinen Augenblick vom Sinnlichen entfernen und sich vor allem an das Eine halten: daß Erschütterung zum Einsturz führt. Wollen die, die uns bei jeder Premiere oder jeder Neuerscheinung ihrer Erschütterung versichern, nun sagen, etwas in ihnen sei eingestürzt? Ach, die Phrase, die vorher feststand, steht auch nachher fest. Wie könnten sie sich auch die Pause gönnen, auf die allein der Einsturz folgen kann. Nie hat sie einer deutlicher gespürt als Marcel Proust beim Tode der Großmutter, der erschütternd, aber gar nicht wirklich schien, bis ihm am Abend , da er sich die Schuhe auszieht, Tränen kommen. Warum? Weil er sich bückte. So ist der Körper gerad dem tiefen Schmerz Erwecker und kann es dem tiefen Denken nicht minder werden.“ (Walter Benjamin, Illuminationen). So können es Bewegungen sein, Träume, Erinnerungen, die zur Sprache kommen, statt im Untergrund zu verwesen. Dazu braucht man Einsamkeit, bemerkt Benjamin weiter. Im Getöse kommen diese Stimmen nicht zu Wort. Man braucht, so würde ich heute sagen, vor allem keine Betriebsamkeit. Doch man braucht einen Zusammenhang von Menschen, die sich auf solche Produktion immer wieder besinnen und in dem nicht gleich der Ruf nach dem Psychiater laut wird, wenn jemand einen unverstandenen Traum erzählt.

   

Zu einem weiteren Bildungsprozeß wurden für alle Beteiligten – Studenten, Dozenten, „Klienten“ – die im letzten Studienjahr dann begonnenen „Projekte“ auf Abenteuerspielplätzen und in Häusern der offenen Tür. In den Projekten sammelten wir Erfahrungen mit den Menschen, die wir als Sozialarbeiter betreuen sollten: Hilfsarbeiter, Arbeitslose, Angehörige einer „Rocker“clique, damals „randständige“ Jugendliche genannt. Hier wurde getrunken und oft randaliert und es herrschte keine Tanzbegeisterung, höchstens grassierte öfter das Fußballfieber, das sie zeitweise auch außerhalb des „Heimes“ zusammenbrachte. Bei allen Schwierigkeiten der praktischen Arbeit, die sich hauptsächlich in einem zur Kneipe ausgebauten Kellerraum eines Gemeindehauses abspielte, in der jeder gerade durch die konkrete Einmischung in die herrschenden Verhältnisse mit dem Elend, aber auch mit der herrschenden Gewalt konfrontiert wurde, entwickelten sich doch in diesem Jahr aus den wenigen Momenten konkreter Solidarität Beziehungen der Studenten zu den Männern und Frauen, die in der Einrichtung ihre Freizeit verbrachten, die über diese Einrichtung hinausgingen und das Ende des Jugendheims, das durch Brandstiftung zugrunde ging, überdauerten. Wir fanden eine gemeinsame Organisationsform für Studenten und „Jugendliche“ im Verein für Jugend- und Erwachsenenbildung, den wir 1974 gründeten. Unsere „Jugendlichen“ gründeten eine Fußballmannschaft in diesem Verein, die bis heute besteht, sich erweitert hat um Frauen- und Mädchenmannschaften und den zuvor „Randständigen“ nicht nur buchstäblich einen Platz verschaffte, sondern auch eine Basis, sich um mehr zu kümmern als nur um Sport. Ihre Sozialarbeit haben sie von da an selbst übernommen.



Das Ende der Sozialarbeit war der Beginn unseres Zusammenlebens in Wohngemeinschaften, ein Leben, das ausdrücklich die Kleinfamilie überwinden und eine andere Lebenspraxis organisieren sollte, eine Praxis, in der zumindest die Möglichkeit eines Produktionsprozesses besteht, in dem private Besitzansprüche, ob auf Sachen, Menschen, Kenntnisse, aufgehoben werden und das gemeinsame Leben reicher wird, schöner, solidarischer. Die „Projekte“ gaben den letzten Anstoß dazu.

1975 fanden wir dieses Haus, das wegen seiner Größe und Vielzahl der Zimmer für eine Familie nicht in Frage kam und deshalb leer stand. So zogen wir – damals ca. 20 Studenten und 2 Dozenten - nach Borgholzhausen, aufs Land.


   


So zogen wir – damals ca. 20 Studenten und 2 Dozenten - nach Borgholzhausen, aufs Land. Wir hatten uns nicht ausdrücklich Landleben vorgenommen. Unsere Anregungen kamen aus dem städtischen Zusammenhang und wir hatten kein Interesse an einem Rückzug auf ein von der Stadt abgeschlossenes Landidyll. Das hieß aber nicht, daß es hier auf dem Land nicht vieles neu zu entdecken gab. Das große Haus mit den Stallungen nämlich, einmal bezogen und renoviert, forderte geradezu heraus, es überall mit neuem Leben zu erfüllen und erweiterte die Praxis. Was wir hier in verstaubten Ecken fanden, machte neugierig auf die ländlichen Tätigkeiten, die die meisten noch in der Kindheit gesehen hatten.




So begannen wir zunächst mit ein paar Hühnern, Kaninchen, 2 Schweinen und 2 Schafen, um auszuprobieren, wie wir damit zurechtkamen. Ich hatte ja 2 Jahre auf dem Land verbracht und entdeckte die Lust an Tätigkeiten, für die ich mich zuvor nie erwärmt hätte. Ich begann zunächst mit den Schweinen und „hüte“ jetzt seit vielen Jahren die Schafe.




Wir fanden alte Gerätschaften, die wir wieder einsetzten, machten Butter, Käse, Wurst, Brot, bauten Kartoffeln an und Rüben, molken Kühe, machten all diese Tätigkeiten, um mehr vom Leben zu haben. Wir arbeiteten nicht für den Verkauf, verwarfen auch manches wieder, was uns nicht schmeckte oder allzu mühsam war. Doch da wir so viele waren, brauchten wir auch für die anstrengenderen Tätigkeiten relativ wenig Zeit. Die Bauern der Nachbarschaft, die sich den ganzen Tag allein abrackern mußten, wunderten sich bei Besuchen immer, daß wir dauernd beim Kaffetrinken zusammensaßen oder mit den Kindern spielten, trotzdem unseren Berufen nachgingen und jahrelang auch noch viel Sport machten.. Aber wir produzierten hier ja nicht für den Markt, sondern um unser konkretes Leben reicher und schöner zu machen.



   




Den überwucherten Garten legten wir wieder frei und begannen mit der Neugestaltung und Erweiterung des Geländes, die bis heute andauert. Nicht, weil es nicht fertigzukriegen ist, sondern weil es gar nicht „fertig“ werden soll. Manche Stellen bearbeiten wir und gestalten sie so, wie wir es schön finden, andere lassen wir, wie sie sind und warten, was daraus wird. Als ich vor ein paar Jahren die Gartenarbeit „entdeckte“, hatte ich keine speziellen Kenntnisse, sondern eine Vorstellung aus meiner Kindheit. Ich mochte die Frühjahrswiesen mit dem Schaumkraut, die Butterblumen, die Gräser, die Gänseblümchen, aus denen wir uns Kränze gemacht hatten. Ich machte erst ein kleines Beet, dann erweiterte sich langsam der Blick und ich nahm von der Natur wahr, was ich zuvor gar nicht beachtet hatte. Dann versuchte ich, aus dem Vorhandenen etwas Neues zu komponieren, das den frühen Wunschbildern von Natur nahekam. Man kann daran jedes Jahr auf Neue arbeiten wie an Bildern. Die folgenden Gartenfotos machte ich im Herbst 2004.

   
   
   
   
   


Die Natur hat ihre uralte Geschichte und erstaunliche Gegenwart und bringt sich zum Ausdruck. Es ist der Mensch, als gesellschaftliches Wesen auf Verständigung mit Menschen und Dingen angewiesen, der ihr Murmeln vernehmen und zur Sprache bringen kann.
Der Baum und die Sprache: "Ich stieg eine Böschung hinan und legte mich unter einen Baum. Der Baum war eine Pappel oder eine Erle. Warum ich seine Gattung nicht behalten habe? Weil, während ich ins Laubwerk sah und seiner Bewegung folgte, mit einmal in mir die Sprache dergestalt von ihm ergriffen wurde, daß sie augenblicklich die uralte Vermählung mit dem Baum in meinem Beisein noch einmal vollzog. Die Äste und mit ihnen auch der Wipfel wogen sich erwägend und bogen sich ablehnend; die Zweige zeigten sich zuneigend oder hochfahrend; das Laub sträubte sich gegen einen rauhen Luftzug, erschauerte vor ihm oder kam ihm entgegen; der Stamm verfügte über einen guten Grund, auf dem er fußte; und ein Blatt warf seinen Schatten auf das andere. Ein leiser Wind spielte zur Hochzeit auf und trug alsbald die schnell entsprossenen Kinder dieses Betts als Bilderrede unter alle Welt."
(Walter Benjamin, Illuminationen)


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